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Pandemie, Selbstbestimmung, Solidarität und die Widerspruchsregelung

Thomas Gächter / Birgit Christensen (ursprünglich erschienen im Jusletter 30. August 2021, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin/des Autors)

Die erweiterte Anwendung des Covid-Zertifikats oder ein direktes Impfobligatorium werden gegenwärtig leidenschaftlich debattiert. Fast unbemerkt zeichnet sich dagegen im Transplantationsrecht eine viel grundlegendere Entwicklung ab, in der Selbstbestimmung und Solidarität deutlich anders gewichtet werden als in der Pandemiebewältigung.

[1] In der Transplantationsmedizin verlangt die geltende erweiterte Zustimmungsregelung eine ausdrückliche, zu Lebzeiten geäusserte Einwilligung zur Organ-, Gewebe- oder Zellentnahme nach Eintritt des Hirntods. Fehlt sie, können die Angehörigen gestützt auf den mutmasslichen Willen zustimmen. Der Bundesrat und, seit der Sondersession im vergangenen Mai, auch der Nationalrat und die vorberatende Kommission des Ständerats beabsichtigen aktuell mit der gesetzlich verankerten Widerspruchsregelung einen grundlegenden Systemwechsel herbeizuführen: Organe, Gewebe oder Zellen dürfen entnommen werden, wenn die betroffene Person zu Lebzeiten oder ihre Angehörigen nach Eintritt des Hirntods keinen Widerspruch dagegen erheben.
[2] Begründet wird der Systemwechsel in erster Linie mit dem notorischen «Organmangel». Trotz der langjährigen Informationskampagne bleibt nämlich die Zahl der Organspenden tief und lehnen befragte Angehörige eine Spende in der überwiegenden Zahl der Fälle ab. Der Systemwechsel gewichtet die Solidarität mit Menschen auf Organ-Wartelisten sehr hoch, reduziert die Selbstbestimmung über den eigenen (toten) Körper auf den Widerspruch und lässt sie hinter die Solidarität zurücktreten.
[3] Die gesellschaftspolitischen und letztlich auch medizinethischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Bewältigung der Covid-19-Pandemie lassen jedoch erkennen, dass das Mass der solidarischen Pflichten Einzelner gegenüber der öffentlichen Gesundheit höchst kontrovers ist. Ein grosser Teil der Bevölkerung lehnt – im Interesse der Selbstbestimmung – ein Impfobligatorium ab, und die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Covid-Zertifikats stösst auf heftigen Widerstand.
[4] Umso erstaunlicher erscheint es, dass der angestrebte Systemwechsel von der erweiterten Zustimmungs- zur erweiterten Widerspruchsregelung von diesem Diskurs weitgehend unberührt bleibt. Nach Eintritt des Hirntods soll der Körper der Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich im Interesse Dritter verwertet werden dürfen.
[5] Die Einführung der Widerspruchsregelung ist aber auch aus medizinrechtlicher Perspektive problematisch. Grundsätzlich gilt jeder medizinische Eingriffals Verletzung der körperlichen Integrität. Rechtmässig wird eine solche Körperverletzung nur, wenn ein Informed Consent, eine sogenannt informierte oder aufgeklärte Einwilligung, vorliegt, womit das Selbstbestimmungsrecht und die Verfügungsmacht über den eigenen Körper des Individuums respektiert werden. Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper gilt – abgeleitet aus dem Schutz und der Achtung der Menschenwürde – auch über den Tod hinaus. Im Bereich der Transplantations-Chirurgie soll nun an diesem Punkt eine Ausnahme statuiert werden: Liegt kein Widerspruch vor, kann die Zustimmung zur Organspende vermutet werden. Der Informed Consent entfällt. Das Schweigen, die fehlende Willensäusserung, gemeinhin als «rechtliches Nullum» bewertet, wird zu einem «Ja» und erfährt so in einem heiklen Bereich eine grundlegende Transformation.
[6] Gemessen an der eher geringen Zahl jener, die sich heute aktiv und positiv für eine Spende ihrer Organe aussprechen, ist politisch zumindest klärungsbedürftig, ob im Sinne einer Vermutung tatsächlich von einer solidarischen Organspendebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger ausgegangen werden darf. Ohne breite Diskussion dieses Systemwechsels droht der Transplantationsmedizin ein Vertrauensverlust, der sich kontraproduktiv auswirken könnte.
[7] Das Plenum des Ständerats, das sich demnächst mit der Frage der Widerspruchsregelung befassen wird, sollte deshalb in seine Überlegungen einbeziehen, dass mit dem Systemwechsel auch eine Wertungsdivergenz zur Pandemiebekämpfung (und zu anderen sensiblen Bereichen des Medizinrechts) geschaffen und die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger in einem entscheidenden Punkt untergraben wird. Sowohl die geltende Zustimmungsregelung wie auch die von der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK klar favorisierte Erklärungsregelung stellen demgegenüber einen weit weniger gravierenden Eingriff dar.

Thomas Gächter ist Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich.
Birgit Christensen, Dr. phil. et lic. iur., forscht in Zürich.

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