Einleitung
Gemäss SDA-Meldung vom 22. September 2021 hatte sich das Parlament in der Schweiz für die erweiterte Widerspruchregelung ohne direkte Zustimmung für die Organentnahme entschieden. Der Entscheid der Räte ist die Zustimmung zum Gegenvorschlag zu einer Initiative, welche die welsche Sektion der jungen Handelskammer der Schweiz, die Jeune Chambre Internationale (JCI), 2017 unterstützt von Swisstransplant für die Einführung der engen Widerspruchregelung erfolgreich lanciert hatte. Nach dieser würden allen in der Schweiz sich aufhaltenden Personen Organe entnommen werden dürfen, es sei denn, sie haben sich dagegen ausgesprochen. Dies gälte selbst für Durchreisende. Nach der Annahme der Räte des Gegenvorschlags des Bundesrates hat das Initiativkommitee seine Initiative bedingt zurückgezogen.
Verletzung der Patientenautonomie und der Patientenrechte
Die Initiative und nun auch der «Gegenvorschlag» des Bundesrates sind ein weiterer Schritt hin zu einer Transplantationsmedizin, welche die individuellen Abwehrrechte des Einzelnen missachtet. Zuvor wurde der Entscheid für vorbereitende Massnahmen für eine Organentnahme und deren Durchführung vor den Eintritt des Hirntods verlegt, d. h., sobald heute auf einer Intensivstation der Entscheid getroffen worden ist, dass lebenserhaltende Massnahmen keinen Sinn mehr ergäben, kann ohne direkte Einwilligung des Patienten stellvertretend durch seine Angehörigen über eine Organentnahme entschieden und der urteilsunfähige Patient hierfür vorbereitet werden. Die Zahl solcher Fälle hat sich von 2018 auf 2019 verdoppelt. Diese Entnahmen nach sekundärem Hirntod machen gegenüber den Entnahmen nach primären Hirntod nun bereits fast die Hälfte aller Organentnahmen aus. Dabei wird die Patientenautonomie von urteilsunfähigen und noch nicht hirntoten Personen, welche für eine Organentnahme in Frage kommen, bereits heute geritzt. Mit der erweiterten Widerspruchsregelung würden solche Autonomieverletzungen weiter verschärft. Die Selbstverständlichkeit, dass der Staat Integrität der Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz schützt, ginge durch den Anspruch des Staates auf die Organe der Menschen verloren. Wer seine Organe nicht freigeben möchte, muss explizit widersprechen. Nur wenn ein expliziter Widerspruch des Patienten oder der Patientin, sowie deren Angehörigen vorliegt, dürfen Organe nicht entnommen werden.
Paradigmenwechsel
Die geplanten Änderungen bei der Organentnahme stehen im Kontext eines sich zurzeit anbahnenden Paradigmenwechsels bei der Entscheidungsfindung in der Medizin: Ein allfälliger Fremdnutzen soll der Würde des Menschen vorgehen. Dabei werden die individuellen Abwehrrechte des Einzelnen zugunsten des Gesundheitsnutzens von vielen relativiert. Dies ist nicht nur in der Transplantationsmedizin so, sondern trifft auch auf viele andere Bereiche im Gesundheitswesen zu, z. B. den Schutz der Gesundheitsdaten. In der Abstimmung zur Widerspruchsregelung stehen in der Verfassung garantierte Grundrechte und normative Voraussetzungen der Medizin- und Pflegeethik zur Disposition.
Forderungen:
- Der Anspruch auf Patientenautonomie gilt auch für urteilsunfähige Menschen auf der Intensivstation, die für eine Organentnahme in Frage kommen
- Anspruch auf informierte Entscheidung für oder gegen eine Organentnahme
- Organentnahme muss zwingend freiwillig eine bewusste Spende sein
- Kein Anspruch auf Organe anderer Menschen
Autorin:
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik, ist auch Mitglied des Referendumskomitees. Seit Jahrzehnten thematisiert sie die ethischen Fragestellungen der Widerspruchsregelung.